
Corona-Krise ist eine Chance für die digitale Schule
Dass die Schulen wegen des Coronavirus Mitte März 2020 ihre Türen schließen mussten, hat die Diskussion um die digitale Schule enorm befeuert. Aktuell steht im Vordergrund, digitale Geräte und Infrastruktur für alle Schülerinnen und Schüler zu beschaffen. Wie sich das Lernen grundsätzlich durch die Digitalisierung verändert, ist damit aber noch nicht beantwortet.
Fragen, die sich Pädagoginnen und Pädagogen zum Thema digitale Bildung vor der Corona-Krise stellten, waren einerseits grundsätzlicher Natur. Brauchen wir Informatikunterricht für alle? Wie verändert sich der Unterricht durch die Digitalisierung? Andererseits wurden Fragen zur Infrastruktur debattiert. Also, wer kümmert sich um die Bereitstellung und die Wartung der Geräte? Ist „bring your own device“ – also das Nutzen von privaten Geräten – eine Lösung für die lückenhafte digitale Infrastruktur der Schulen?
Einige Antworten hat der sogenannte Corona-Lockdown im Schnellverfahren geliefert. Weil viele Schüler beim Lernen daheim mangels Geräten nicht arbeiten konnten, wurde schnell klar, wie notwendig es ist, eine funktionierende Infrastruktur für alle bereit zu stellen. „Die Digitalisierung der Bildung an sich war plötzlich kein Thema mehr, stattdessen sprachen Politik und Öffentlichkeit nur noch von der Digitalisierung als Kommunikationswerkzeug“, beobachtete der VBE-NRW-Landesvorsitzende Stefan Behlau.
Alle Schüler sollen ein Gerät bekommen
Kein Wunder, denn im Lernen auf Distanz hatte sich „bring your own device“ als so ungerecht herausgestellt, dass die Bundesregierung schnell nachlegen musste. Weil der Unterricht noch auf absehbare Zeit eine Mischung aus Präsenzlernen und Lernen auf Distanz sein wird, stellen Bund und Länder in einem Sofortprogramm 550 Millionen für digitale Endgeräte bereit. 105 Millionen davon fließen nach Nordrhein-Westfalen. Für die Umsetzung sind die Länder zuständig. Die Geräte werden von den Schulen und Schulträgern an die entsprechenden Schülerinnen und Schüler ausgeliehen. Die Geräte bleiben Eigentum der Schulen. Das Sofortprogramm ist als Zusatzvereinbarung zum Digitalpakt aus dem Jahr 2019 vorgesehen. Anders als beim Sofortprogramm liegt der Schwerpunkt beim „Digitalpakt Schule“ nicht auf der Beschaffung von Endgeräten. Vielmehr geht es darum, langfristig die digitale Infrastruktur von Schulen aufzubauen und zu erhalten. Dafür geben Bund und Länder in den nächsten Jahren 5,5 Milliarden Euro aus.
Eigenverantwortliches Arbeiten ist gefordert
Hinter diesen Programmen treten die grundsätzlichen Fragen in den Schatten. Sie bleiben aber aktuell und bekommen durch die veränderten Rahmenbedingungen neues Feuer. Die Lehrkräfte spüren nämlich den Wandel mit großer Mehrheit. In einer Umfrage des deutschen Schulportals gaben 69 Prozent der Lehrkräfte an, dass es an ihrer Schule einen Verbesserungsbedarf bei den Kompetenzen der Lehrkräfte gibt, mit digitalen Lernformaten zu arbeiten. Außerdem sagen 67 Prozent, dass sie die Schülerinnen und Schüler zukünftig stärker dazu befähigen wollen, mehr Verantwortung für ihren Lernprozess zu übernehmen.
Das eigenverantwortliche Arbeiten ist das zweite Thema, zu dem das Lernen auf Distanz Erkenntnisse geliefert hat. Wie gut das Lernen auf Distanz klappt, hängt nämlich auch davon ab, ob Schülerinnen und Schüler eigenständig und selbstbestimmt arbeiten können. Dass sie motiviert sind, auch wenn die Lehrkraft nicht anwesend ist.
Der Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises, Professor Michael Schratz, findet daher, dass die Krise ein guter Auslöser ist, um innovativen, selbstbestimmten Unterricht mithilfe der Digitalisierung auszubauen. „Jetzt geht es darum, aus den Erfahrungen zu lernen und sich die erforderlichen Kompetenzen anzueignen. Diese Krise ist eine Jahrhundertchance“, sagte er dem deutschen Schulportal.
Digitale Wege ändern die Lehrerrolle
Zurzeit scheinen die Möglichkeiten von digitalen Wegen vielerorts noch brach zu liegen. Eine Umfrage legte offen, dass ein Großteil der Lehrerinnen und Lehrer versucht, den klassischen Unterricht auf den Fernunterricht zu übertragen. Zum Beispiel Arbeitsblätter scannen und an die Schülerinnen und Schüler verteilen. Professor Schranz findet das schwierig und erklärt: „Die Grenzen der Übertragung des analogen Unterrichts auf das digitale System werden hierbei offenkundig, denn der Fernunterricht verändert die Lehrerrolle. Im klassischen Unterricht wird das Verstehen an die Schülerinnen und Schüler delegiert. Die Lehrperson beurteilt, ob sie das Vermittelte verstanden haben oder nicht.“ Sei der Fernunterricht hingegen gut organisiert, recherchierten die Schülerinnen und Schüler die neuen Inhalte selbst. Die Lehrkraft unterstütze, gebe Orientierung und fördere die kritische Auseinandersetzung mit Wissen aus dem Internet.
Hält man sich die veränderte Lehrerrolle vor Augen, könnte die Corona-Krise der Auftakt sein, um Lernkonzepte zu überdenken und diese stärker an den einzelnen Schülern auszurichten. Um alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen, auch wenn sie physisch nicht im Klassenraum sitzen.
Beispiele für neue Lernkultur
Wie das aussehen kann, hat der Publizist und Erziehungswissenschaftler Jöran Muuß-Merholz in seinem Buch „Digitale Schule – Was heute schon im Unterricht geht“ beispielhaft beschrieben. Um neue Lernkonzepte umzusetzen, brauchen Schulen mehr Flexibilität, müssen stärker in Projektarbeit denken, in jahrgangsübergreifenden Unterricht und daran, ihre Lernenden auch in die echte Welt hinaus zu lassen. Muuß-Mehrholz nennt die Konzepte alte und neue Lernkultur.
Beispiel Sprache lernen. In der alten Lernkultur helfen Apps bei Vokabeltraining und Grammatikübungen. In der neuen Lernkultur findet das Sprache lernen in einem gemeinsamen Projekt von Schulklassen in unterschiedlichen Ländern statt, die über das Internet zusammenarbeiten.
Beispiel Quiz: In der alten Lernkultur prüfen die Schülerinnen und Schüler ihr Wissen, indem sie digitale Quizübungen nach dem Muster von „Wer wird Millionär“ abarbeiten. Bei falschen Antworten bekommen sie direktes Feedback und weiterführende Hilfestellungen. In der neuen Lernkultur prüfen die Schülerinnen und Schüler ihr Wissen, indem sie digitale Quizübungen nach dem Muster von „Wer wird Millionär“ erstellen, also selbst konzipieren. Dafür müssen sie unter anderem plausible falsche Antworten konstruieren und ihr Wissen durch die Abstufung nach Schwierigkeitsgraden reflektieren.
Beispiel Texte: In der alten Lernkultur fertigen Schülerinnen und Schüler Mitschriften digital und individuell an, zum Beispiel mit einer Textverarbeitung. Sie können diese mit Fotos und Grafiken, ggf. auch mit Links, Videos und Animationen erweitern. In der neuen Lernkultur fertigen Schülerinnen und Schüler Mitschriften digital und kooperativ an, zum Beispiel mit einem Wiki. Dafür müssen sie ihr Wissen untereinander abgleichen und aushandeln. Multimediale Erweiterungen sind möglich, Hyperlink-Strukturen unabdingbar.
Wie die Beispiele zeigen, hat die Corona-Krise, obwohl sie voraussichtlich noch nicht ausgestanden ist, der Debatte um digitale Bildung einen ordentlichen Schub verliehen. Politiker liefern plötzlich Lösungen für die bisher jahrelang vernachlässigte Infrastruktur. Die Krise hat gezeigt, wie schnell sich die Lehrerrolle wandeln kann und Platz geschaffen für neue Ideen. Professor Schratz empfiehlt, die Veränderungen kreativ zu nutzen: „Die Chance besteht darin, den momentanen Digitalisierungsschwung zu nutzen und auf Basis der zum Teil mühevollen Erfahrungen ein digitales Konzept zu entwickeln. Schulen müssen jetzt klug überlegen, welche technische Ausstattung sie brauchen, mit welcher Plattform sie arbeiten wollen. Aber auch, welche Möglichkeiten sie didaktisch nutzen wollen, damit alle Lehrerinnen und Lehrer die digitale Kultur in ihren Fächern für ihre spezifischen Zwecke nutzen können.“

